Bei verwaschenem Herbstwetter treffe ich Dr. Florian Schneider zum Fototermin in Frankfurt.
Florian arbeitet als Ökologe und Umweltwissenschaftler am Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt. Er beantwortete mir meine Fragen zum Mensch-Natur-Verhältnis, zu der Rolle, die dabei den Städten zukommt und welchen Wert Biodiversität ganz grundsätzlich besitzt.
Lesezeit: 10 Minuten
Interview: Dr. Florian Dirk Schneider, Anke Schmitz ∗ Einleitung: Anke Schmitz ∗ Textbearbeitung: Dr. Florian Dirk Schneider, Anke Schmitz ∗ Fotos: Anke Schmitz∗ Lekorat: Dr. Ruthild Kropp
GB: Du bist am ISOE in Frankfurt am Main beschäftigt. Was macht das ISOE genau?
FS: Die sozial-ökologische Forschung am ISOE befasst sich mit Problemen und Herausforderungen der nachhaltigen Entwicklung, die weder in der ökologischen Forschung noch in der Sozialforschung alleine beantwortet werden können. Dabei schauen wir auf die Beziehungen und Wechselwirkungen, über die Gesellschaft und Natur miteinander verbunden sind – wir sprechen dabei von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen. Ausgehend von der Unterscheidung Natur‒Mensch kommen wir so zu einer Systemanalyse, die es uns erlaubt, die wichtigen Stellschrauben für Veränderungen und Verbesserungen in Richtung Nachhaltigkeit zu identifizieren.
GB:Das Verhältnis zwischen Menschen und Natur scheint eine Aporie. Zum einen gibt es Argumente, die den Menschen der Natur zuordnen, zum anderen gibt es aber auch gute Gründe dafür, den Menschen der Natur entgegenzusetzen. Wie ordnest du dieses Paradoxon ein?
FS:Die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur bzw. Natur und Mensch entstammt dem westlichen Weltbild und ist fest in unserer Sprache und unserem Blick auf die Welt verwurzelt. Das hatte Folgen für die Wissenschaft. Früher hat sich die Naturwissenschaft mit den Dingen der Natur befasst und die Sozialwissenschaft mit dem Menschen. Wie man sich als Individuum oder als Gesellschaft im Verhältnis zur Natur verortet, ist aber stetig im Wandel. Die Verwendung von Technologien, Eingriffe in die genetischen Bausteine des Lebens, Live-Satellitendaten und Datenströme um den ganzen Globus – wir leben in einer Welt der Verflechtungen. Angesichts von Fragen der Nachhaltigkeit, wie der drohenden Übernutzung natürlicher Ressourcen oder der Auswirkung menschlichen Handelns auf die Integrität der Biosphäre, verschwimmen die Grenzen von Natur und Gesellschaft zunehmend. Wir sprechen daher auch vom Anthropozän als einer neuen geologischen Epoche, in der nichts in der Natur von menschlicher, gesellschaftlicher Aktivität unbeeinflusst bleibt. Die Wissenschaft kommt daher heute nicht mehr ohne interdisziplinäre Kooperationen aus. Es entstehen sogar komplett neue Forschungsfelder, die sich mit den Grenzbereichen von Natur und Gesellschaft auseinandersetzen.
Mensch und Natur erscheinen mir eher wie zwei Seiten einer Medaille. Was tatsächlich zählt, ist das, was den Raum zwischen den zwei Seiten füllt: nämlich die gesellschaftlichen Naturverhältnisse. So paradox finde ich das also gar nicht.
Überwucherte Brachen und Randstreifen von Straßen sind also meiner Meinung nach ganz legitime Naturräume, die auch einen gewissen Schutz verdienen.
GB: Ein weiteres Gegenüber scheinen Stadt und Land zu sein. Gibt es Natur nur auf dem Land und in der Stadt hat sie keinen Platz?
FS:Auf dem Land fällt es uns viel leichter, eine Zuschreibung von Flächen in Naturräume, wie Wälder, Wiesen oder Gewässer, und kultiviertem Land, wie Acker- oder Siedlungsbereiche, vorzunehmen. Es ist leicht zu sagen, „Ich gehe mal raus ins Grüne“. Die Natur ist in direkter Nachbarschaft. Städte dagegen sind sozusagen per Definition Orte „fernab der Natur“. Orte mit starker Bebauung und hoher Bevölkerungsdichte. Gebaut für Menschen, zum Wohnen und Arbeiten. Hier bekommen wir scheinbar alles geboten, was wir zum Leben brauchen. In einem gewissen Maß wird auch das Bedürfnis nach Natur in der Stadt bedient: in den Parks und Grünanlagen, im Zoo, im Naturkundemuseum oder eben auch zunehmend über digitale Medien. Man könnte meinen, dass wir dabei lediglich einen indirekten, einen vermittelten Eindruck von Natur gewinnen können. Dass das, was wir in der Stadt erleben, eben nicht die „echte“ Natur ist, sondern nur ein Abbild davon. Aber ist das wirklich so?
GB: Suggestivfrage – wie ist der Lebensraum Stadt in seiner ökologischen Qualität zu bewerten?
FS:Tatsächlich finden wir in der Stadt eine größere Artenvielfalt als in ländlichen Gegenden. Das liegt an der Kleinteiligkeit und Vielfalt an Lebensräumen auf engstem Raum. Es gibt eine große Zahl an Baumarten, Kleingewässer, Mauerritzen und Straßenränder, wilde und gepflegte Gärten und zahlreiche Extremstandorte auf trockenen Schotterplätzen, auf Dächern und auf schwermetallbelasteten Brachen. So kommen Habitate auf der Fläche einer Stadt zusammen, die sich sonst nur über den ganzen Kontinent verteilt finden: Gebirgszüge und Steilklippen, Steppen und Wüsten, Gewässer, Sümpfe, magere Sandböden, fette Wiesen, schattige Wälder. Die hier vorgefundenen Lebensräume sind in beträchtlichem Maß menschengemacht, aber sie beherbergen trotzdem eine große Zahl an Tieren und Pflanzen. Das sollte nicht vergessen werden! Überwucherte Brachen und Randstreifen von Straßen sind also meiner Meinung nach ganz legitime Naturräume, die auch einen gewissen Schutz verdienen.
Im Anthropozän kann man die Stadtnatur als wildes Natur-Kultur-Gemenge begreifen – als Garten, in dem Orte für Natur einerseits durch den Menschen „hergestellt“ werden, Pflanzen und Tiere sich andererseits aber ihren eigenen Raum nehmen.
Das eigene Wissen um Ökosysteme und Artenvielfalt bestimmt, welchen Wert wir einer Blühwiese oder einem gepflegten englischen Rasen beimessen.
GB: Welche Rolle kam und kommt Grünflächen seit ihrem Aufkommen in Städten zu?
FS: Ganz ursprünglich hat man Parks und Grünanlagen als repräsentative Flächen für die herrschende Klasse und auch als Orte der Erholung und Erbauung für die Bürgerinnen und Bürger betrachtet. In der Industrialisierung waren sie dann auch zunehmend dazu da, Gesundheitsrisiken und Gefahren vorzubeugen, wie zum Beispiel Lärm, Überhitzung, Luftverschmutzung oder Überschwemmungen. Heute haben die Kommunen die Verantwortung, die Stadt für die Menschen lebenswert zu machen, und konzipieren Grünflächen als sogenannte grüne Infrastrukturen, also als möglichst zusammenhängende Grünzüge zur Bereitstellung von wichtigen Funktionen für die Menschen in der Stadt. Und nicht zuletzt sind Grünflächen auch Habitate für Tiere und Pflanzen.
GB: Kannst du die heutige Bedeutung von Grünflächen als Infrastruktur noch mal genauer ausführen? Welche Flächen zählen alle dazu?
FS: Grüne Infrastrukturen ergänzen die klassischen Infrastrukturen zur Versorgung mit Trink- und Abwasser, Strom, Telekommunikation oder Mobilität. Bei dieser Betrachtung gewinnen neben den großen Parkanlagen auch die vorher eher stiefmütterlich behandelten Flächen wie Straßenränder oder Brachflächen an Bedeutung. Sie werden zu Kaltluftschneisen, Korridoren oder Inseln. Auch neue Flächen werden dafür gewonnen, wie Dachflächen und Fassaden, die als Gründächer oder Wandgärten umgestaltet werden. In extremen Hitzesommern, die zukünftig bei uns die Regel sein werden, rettet Grün in der Stadt Menschenleben. Durch eine derartige Vernetzung verschiedenster Grünflächen über das ganze Stadtgebiet entsteht ein großer Mehrwert, nicht nur für die Menschen. Auch die Tiere und Pflanzen profitieren von einer Vernetzung ihrer Habitate.
GB: Welchen Wert hat Natur in der Stadt speziell für den Menschen?
FS:Diese auf die Dienstleistungen und Funktionen ausgerichtete, sogenannte „instrumentelle“ Bewertung von Natur in der Stadt bildet in der Tat nicht ab, wieso Menschen die Grünräume nutzen, was sie dort vorfinden und mitnehmen. Darum befassen wir uns am ISOE neben dem instrumentellen Wert von Natur in der Stadt auch mit dem „relationalen“ Wert, also dem Mehrwert aufgrund des persönlichen Bezugs zu einem Ort, zu Tieren oder Pflanzen in der Stadt. Diese Wertzuschreibung ist von unseren alltäglichen Begegnungen mit Natur geprägt, von den eigenen Assoziationen und Erlebnissen, aber auch dem kulturellen Hintergrund. Auch das eigene Wissen um Ökosysteme und Artenvielfalt bestimmt, welchen Wert wir einer Blühwiese oder einem gepflegten englischen Rasen beimessen. Der relationale Wert ist schwer durch etwas anderes ersetzbar oder mit einem Preis zu beziffern. Die große Herausforderung ist es, den relationalen Wert von Natur in der Stadt dennoch für eine nachhaltige Stadtentwicklung zu berücksichtigen und einzuplanen.
GB: Was denkst du, wie die Gesellschaft eine stärkere Wertschätzung für die Grünflächen in ihrer Stadt entwickeln könnte?
FS: Ich glaube, wichtiger wird sein, kleinräumiger zu denken, also die Beziehungen von Menschen in der Stadt zu „ihren“ Grünflächen zu betrachten und sie über eine direkte Beteiligung an Entscheidungsprozessen in die Gestaltung des Stadtgrüns einzubeziehen. Bürger*innen mitgestalten zu lassen, heißt auch, sie mit in die Verantwortung zu nehmen. Zum Beispiel werden bei der Pflege von Baumscheiben, Hochbeeten, vertikalen Gärten oder einem gemeinsamen Nachbarschaftsgarten auch in der dicht bebauten Stadt Potenziale genutzt. Dabei wird ein Beitrag zur grünen Infrastruktur geleistet, aber auch gleichzeitig Wissen über Natur vermittelt und Menschen auf die Natur in der Stadt aufmerksam gemacht.
GB: Ach, wenn dieser relationale Wert schwer in Zahlen auszudrücken ist, wird genau diese Kalkulierbarkeit doch oft in der Stadtplanung gefordert sein. Welche Umwege kann ich da möglicherweise doch gehen?
FS: Tja, das geht eben nur bedingt. Höhere Wohnungspreise und Mieten in der Nähe von Parks können ein indirekter Indikator dafür sein. Da vermischen sich aber sehr viele Einflussfaktoren. Auch wird in sozialempirischen Befragungen die „Willingness to pay“ abgefragt, also der fiktive Geldbetrag, den jemand bereit ist, für einen eigenen Garten oder einen Baum vor der eigenen Haustür zu zahlen. Oder man kann die Einschätzung der Lebenszufriedenheit mit dem real vorhandenen Angebot an Grün im eigenen Wohnumfeld korrelieren. Aber das sind statistische Methoden, die letztlich nur näherungsweise Kennzahlen als Argument für eine grünere Stadtplanung geben können.
GB: Kann man eigentlich was zu den unterschiedlichen Qualitäten von Grünflächen sagen, wenn es um Faktoren wie Stressabbau, also Erholung, aber auch Biodiversität geht?
FS: Ich bin kein Psychologe und kann die Wirkung von Grünflächen zur Stressreduktion und zur Erhaltung der Gesundheit nur aus eigener Erfahrung erahnen. Mir bringt es unglaublich viel Entspannung, wenn ich nach der Arbeit raus in den Park oder in den Stadtwald gehe oder am Wochenende im eigenen Garten bin. In jedem Fall haben wir im Corona-Sommer die Anziehungskraft von Grünflächen in den Städten erleben können. Aber ich würde mich noch nicht so weit aus dem Fenster lehnen und behaupten, dass artenreiche Grünflächen für den Stressabbau besser sind als artenarme. Mit ästhetischen Fragen setzt sich die Garten- und Landschaftsarchitektur auseinander. Da sieht man heute vielfältige Blühwiesensaatmischungen und strukturreiche Staudenbeete auf dem Vormarsch. Aber diese Gestaltungstrends entstehen ja auch im Wechselspiel mit der Debatte um das Bienensterben und den Insektenschwund. Immer mehr Menschen sehen einen Wert in Blühwiesen, weil sie wissen, dass es gut für die Insekten ist. Für die Wirkung auf das eigene Empfinden zählt am Ende die individuelle Bewertung. Aus ökologischer Sicht muss man natürlich Grünflächen besser bewerten, die eine hohe Artenvielfalt aufweisen, z. B. weil sie das ganze Jahr über ein reiches Nahrungsangebot für Insekten und andere Tiere sowie vielfältige Lebensräume anbieten. Magere Wiesen weisen mehr Arten auf als nährstoffreiche Flächen. Laubbäume und Hecken bieten mehr Arten Nahrung und Lebensraum als Koniferen. Totholz ist wichtig für viele Käfer und andere Insekten.
Neben dem instrumentellen und relationalen Wert von Biodiversität gibt es auch noch einen „intrinsischen“ Wert.
GB: Warum ist Artenvielfalt sprich Biodiversität überhaupt wichtig?
FS:Wir haben ja über die vielen Funktionen gesprochen, die Grün in der Stadt erfüllen muss. Abkühlung und Filterung der Luft hat viel mit der Beschaffenheit und Gesamtoberfläche des Laubs der Pflanzen zu tun. Manche Arten verkraften die Belastung mit Feinstaub und Abgasen besser als andere. Manche Arten kommen besser mit den Hitzeschwankungen in der Stadt klar. Vögel und Säugetiere verteilen die verschiedenen Samen der Pflanzen. Fledermäuse und Vögel fangen Stechmücken aus der Luft. Insekten leisten ihren Beitrag bei der Bestäubung und Vermehrung der Pflanzen oder in der Reduktion von Pflanzenkrankheiten. Jede Art bringt ihre Eigenschaften und Fähigkeiten in die Ausstattung der grünen Infrastruktur ein. Je größer die Artenvielfalt, umso besser ist sichergestellt, dass diese vielfältigen Funktionen auch ausgeübt werden. Außerdem geht es auch darum, den Menschen, die in der Stadt leben, Artenvielfalt und ihre Bedeutung zu vermitteln. Dafür kann der Stadtpark eine Bühne bieten, ebenso wie der Grünstreifen am Straßenrand oder der Schulgarten. Nur so kann eine Wertschätzung für Biodiversität aufgebaut werden, die über die instrumentelle Funktion hinausgeht.
GB: Im ersten Teil deiner Antwort klingt der Wert der Biodiversität tatsächlich nach einer Dienstleistung. Was genau meinst du mit der „Wertschätzung über die instrumentelle Funktion hinaus“, für die sensibilisiert werden soll?
FS: Ah, die Frage ist also nicht, warum ist Biodiversität „für die Menschen“ wichtig, sondern warum ist sie „an sich und für sich“ wichtig. Neben dem instrumentellen und relationalen Wert von Biodiversität, darüber haben wir jetzt schon ausführlich gesprochen, gibt es auch noch einen „intrinsischen“ Wert. Damit würde man beispielsweise ausdrücken, dass ein Ökosystem auch dann für die darin lebenden Arten funktionieren soll, wenn kein Mensch in der Nähe ist und davon irgendeinen Nutzen zieht. Oder dass wir einer Art auch für sich ein Recht zusprechen, ihrer Nahrungssuche und Fortpflanzung nachzugehen. Das tun wir zum Beispiel, wenn wir Arten, die auf der Roten Liste als „gefährdet“ oder „vom Aussterben bedroht“ geführt sind, für ein Bauprojekt umsiedeln müssen oder, was seltener geschieht, das Bauprojekt sogar umgeplant werden muss. Allgemein lässt sich sagen, dass Artenvielfalt für das langfristige Fortbestehen von Ökosystemen eine Art Garantie oder Versicherung darstellt. Diverse Artgemeinschaften sind besser gegen Störungen von außen gewappnet, d. h. sie werden nicht so stark betroffen oder können sich danach besser erholen. Auch die einzelne Art hat davon einen Nutzen, weil sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie auch nach der Störung weiter existieren kann in einem Ökosystem, das ihr genehm ist. Man spricht von ökologischer Resilienz.
GB: Klingt doch easy. Woran scheitert es in der Praxis?
FS:Artenreiche Ökosysteme sind für uns Menschen meist ohne ersichtliche Ordnung. Dazu gehören unscheinbare krautige Pflanzen ebenso wie Spinnen und Insekten. In Städten steht das manchmal den Interessen und dem ästhetischen Empfinden der Nutzer*innen entgegen. Artenvielfalt in der Stadt gelingt also nur, wenn wir lernen, die Natur „für sich“ wertzuschätzen und ihr den nötigen Raum zuzugestehen.
GB: Welche Möglichkeiten habe ich, um Biodiversität zu betrachten?
FS: Die drei Bewertungsdimensionen – „instrumentell“, „relational“ und „intrinsisch“ – sind gewissermaßen drei unterschiedliche Brillen, durch die man Biodiversität in der Stadt betrachten kann. Nur wenn man alle drei Perspektiven berücksichtigt, bekommt man ein einigermaßen vollständiges Bild. Oft sind die Bewertungsdimensionen kompatibel: Etwa kann man argumentieren, dass mehr Artenvielfalt auch eine gesteigerte Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit der grünen Infrastrukturen verspricht. Wir ziehen einen Nutzen daraus, dass die Ökosysteme auch nach Störungen, wie einem extremen Hitzesommer, noch grundsätzlich intakt sind oder sich zumindest rasch selbst regenerieren können, und das am besten ohne großen Pflegeaufwand. Eine Bewertungsdimension von Biodiversität kann aber auch mit der anderen im Konflikt stehen. Das sieht man am Beispiel der Neobiota, also aus anderen Weltteilen eingeschleppten Tier- und Pflanzenarten.
Neophyten können Lebensräume besiedeln, die für andere heimische Arten vorher unzugänglich waren, oder dann Blütennektar für Wildbienen anbieten, wenn heimische Arten schon verblüht sind.
GB: Wie finden diese in die Städte?
FS: In der Stadt siedeln sich viele neue Arten leicht an, wegen der großen Vielfalt an Habitaten und den vergleichsweise milden Wintertemperaturen, aber auch weil es viel mehr Gelegenheiten für das Ankommen gibt: zum Beispiel durch die Verwendung als Zierpflanze im Gartenbau oder als blinde Passagiere im Güterverkehr.
GB: Welche Haltung hast du Neobiota gegenüber?
FS: In den eben beschriebenen ökologischen Netzwerken fügen sich die gebietsfremden Arten oft nicht nahtlos ein. Manchen dieser Arten fehlen die angestammten Partner, wie zum Beispiel eine bestimmte, spezialisierte Insektenart, die für die Bestäubung wichtig wäre, oder es herrschen nicht die richtigen Umweltbedingungen und sie können sich ohne menschliches Zutun nicht dauerhaft halten. Andere Arten haben hier keine Fressfeinde oder Konkurrenten und können darum über die Stränge schlagen. Wenn sie sich aggressiv ausbreiten und den Lebensraum für andere Arten großflächig einschränken oder ein Gesundheitsrisiko für Menschen darstellen, werden sie zum Problem. Aber bis heute fehlt es uns noch an Strategien, diese Ausbreitung wirkungsvoll zu bremsen. Bei Arten wie dem Götterbaum wären sehr teure und radikale Maßnahmen nötig, um ihn aus dem Stadtbild wieder zu verbannen. Solchen Entscheidungen wird die Abwägung verschiedener Interessen und Sichtweisen in der Gesellschaft vorausgehen müssen. Andererseits können Neophyten Lebensräume besiedeln, die für andere heimische Arten vorher unzugänglich waren, oder dann Blütennektar für Wildbienen anbieten, wenn heimische Arten schon verblüht sind. Wenn man bedenkt, dass die Sommer heißer und trockener werden, kommen wir um besser an Trockenheit angepasste Baum- und Straucharten nicht herum. In den neu eingebrachten Arten liegt also auch ein gewisser Mehrwert. In der Stadt entstehen durch das Aufeinandertreffen von neu eingewanderten und heimischen Arten neuartige Ökosysteme. Die globale Artenvielfalt kommt auf engstem Raum zusammen. So entsteht eine neue, globalisierte Wildnis. Dieses Zusammenleben ist nicht immer einfach, aber wir dürfen meiner Meinung nach nicht von vorneherein ausschließen, dass es auch bereichern kann.
GB: Danke für das Gespräch, Florian!
Über
„Dr. Florian Dirk Schneider ist Ökologe und Umweltwissenschaftler. Seit 2019 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Biodiversität und Bevölkerung am [ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung]( https://www.isoe.de/ ) in Frankfurt am Main. Nach dem Studium der Biologie und Promotion an der TU Darmstadt hat er am CNRS Montpellier sowie am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum in Frankfurt zur Stabilität von Ökosystemen unter menschlicher Nutzung geforscht. Heute beschäftigt er sich mit Fragen der kulturellen und ökologischen Bewertung von biologischer Vielfalt, insbesondere im Zusammenhang mit landwirtschaftlicher Nutzung (das Projekt [DINA]( https://www.isoe.de/nc/forschung/projekte/project/dina/ )) und in urbanen Räumen (das [Projekt SLInBio]( https://www.isoe.de/nc/forschung/projekte/project/slinbio/)). Er lebt in Darmstadt und unterrichtet seit 2019 an der TU Darmstadt ein Seminar mit interdisziplinären Studienschwerpunkten und ist stellvertretender Vorsitzender im Naturschutzbeirat der Stadt Darmstadt. Gemeisam mit Künstler*innen arbeitet Schneider zu Themen in Naturschutz und Forschung (z.B. beim [internationalen Waldkunstpfad]( http://fdschneider.de/crossingthevalley/ ) ) und hat [gemeinsam mit seinem Kollegen Kilian Lingen und der Initiative Essbares Darmstadt das Konzept für eine luftschadstoffreduzierende Mooswand für den Citytunnel]( https://essbaresdarmstadt.de/2021/02/02/entwurf-fuer-den-gruenen-citytunnel/ ) entwickelt.“
www.fdschneider.de
Twitter: https://twitter.com/f_d_schneider