Grünes Blut trifft Ulrich Haage an einem herrlichen Spätsommertag in Der weltältesten Kakteengärtnerei „Kakteen-Haage“ in Erfurt.
Lesezeit: 25 Minuten
Interview: Ulrich Haage, Anke Schmitz ∗ Textbearbeitung: Ulrich Haage ∗ Anke Schmitz ∗ Fotos: Anke Schmitz ∗ Lektorat: Dr. Ruthild Kropp
Im Mittelalter wurde in Erfurt der fruchtbare Boden zunächst für die Waidwirtschaft und später für den Gemüseanbau genutzt. Martin Luther bezeichnete die Stadt der Literatur nach als „Gärtner des Reiches“ und dokumetiert so Erfurts überregionale Bedeutung. Insbesondere Blumenkohl und Wasserkresse wurden in und zwischen den Kanalsystemen vor der Stadt angebaut. Die vitaminreiche Kresse wurde bis an den Hof Napoleons geliefert.
Der Erwerbsgartenbau ebnete Gärtnerdynastien wie Benary und Heinemann den Weg, die sich im 18./19. Jahrhundert auf die Saatgutproduktion spezialisierten. Weltweit spielten die Erfurter Unternehmen hierbei eine bedeutende Rolle. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts organisierte man sich als Gartenbauverein, und die ersten Gartenschauen wurden von den Erfurter Gärtnereiinhabern auf die Beine gestellt. Innerhalb weniger Jahre fanden diese internationale Beachtung. Ausgedehnten Blütenmeere und neu geschaffene Grünanlagen und Parks auf dem Areal der zuvor beseitigten Stadtbefestigung prägten ab Ende des 19. Jahrhunderts das Stadtbild. Gartenschauen fanden nun im Umfeld der Cyriaksburg statt, an deren Tradition die IGA zu DDR-Zeiten anknüpfte und auf deren Gelände sich heute der egapark befindet. So spielte der Wirtschaftszweig Gartenbau für Erfurt wegen seines großen Erfolgs eine identitätsstiftende Rolle. Das Label „Blumenstadt“ lockte zahlreiche Besucher an, colorierte Postkarten inklusive.
Noch heute dient die Landeshauptstadt Thüringens als Station der Hessen-Thüringischen Gärtnereiausbildung, die Fachhochschule beherbergt die Fakultät der Landschaftsarchitektur, der egapark sowie das Gartenbaumuseum zeugen von der Erfurter Zeitgeschichte.
Kakteen-Haage ist die einzige der namhaften Gärtnereidynastien, die durch die Jahrhunderte bestehen blieb und Aufklärung, Kriege, Nationalsozialismus und Kommunismus überdauerte. All das, obwohl sie als Kakteengärtenrei im Spiegel ihrer jeweiligen Zeit zwischen Exotensehnsucht, Zäsur und Verstaatlichung turbulente Zeiten erlebte.
Ulrich Haage leitet die ältesten Kakteen-Gärtnerei der Welt in der sechsten Generation. Die Geschichte seiner Heimatstadt und seines Unternehmens stecken dem reiselustigen Haage in Blut. Viel hat er dazu selbst recherchiert, das von jedermann auf der Internetseite des Unternehmens nachgelesen werden kann. Zum Interview treffe ich den derzeitigen Thüringer Gärtnerpräsidenten in seiner Funktion als Archivar, der mir mit großer Umsicht zu seiner Familiengeschichte und der seiner Heimatstadt Rede und Antwort steht.
GB: Lieber Herr Haage, ich war während der Recherche überrascht, wie international die ganzen Gartenbauunternehmen spätestens im 19. Jahrhundert operierten und dass Benary zum Beispiel bereits weltweit Standorte für die einzelnen Kulturen hatte?
UH: Das ist auch für mich etwas Spannendes. Dieser Gedanke, international nicht nur zu verkaufen, sondern auch zu operieren, den gab es in vielen Bereichen, wie unter anderem im Gartenbau, damals eben auch schon. Es ist nur nie so transparent gewesen und manches kommt nur zufällig heraus.
GB: Soll heißen … ?
Wir hatten zum Beispiel eine Geschichte, als die Olympiade in der Ukraine war, das war so putzig. Da rief mich jemand ganz aufgeregt an, es seien doch gerade die Journalisten auf der Krim. Er habe in einem Buch gelesen, da seien einst Bäume von Haage aufgepflanzt worden und die Journalisten könnten nun einmal nachsehen, ob die noch da sind. Er hat mir dann den Titel des Buches genannt, das damals von einem sogenannten Wirtschaftsgesandten geschrieben worden war …
GB: Was waren denn Wirtschaftsgesandte?
UH: Das waren Leute, die von ihrer Regierung losgeschickt wurden und häufig zu Fuß durch Länder, wie die Ukraine, gelaufen sind, um ehemalige Deutsche, die dort als Deutsch-Siedler hingeschickt worden waren, zu besuchen. Darüber schrieb man dann Bericht an die Regierung. Das ist total unterhaltsam zu lesen. Da liest man so was wie: „Morgens trete ich aus dem Haus. Nach einem Marsch von drei Stunden erreiche ich die Niederlassung der Familie Pfeiffer aus soundso. Frau Pfeiffer ist eine stämmige Frau, ordentlich gekleidet. Gleich lud sie mich zu einer Tasse Tee ein. Die Küche ist sauber, die irdenen Gefäße ohne Tadel und die Wirtschaft scheint gut geführt. Der Mann und der Sohn sind auf den Feldern …“ und so weiter. Zum einen wurden darin also die Lebenssituationen in den jeweiligen Ländern geschildert und dann zum anderen, in unserem Fall, die Angabe, dass es in irgendeiner großen Baumschule einen Versuch gab, für den die Firma Haage aus Erfurt 10.000 Nordmanns-Tannen hingeschickt hatte, um zu beobachten, ob man die dort kultivieren kann. So findet man dann solche Geschichten.
… dieses bürgerlich-kulturelle Verhalten, das hat es für uns im Osten irgendwie nicht gegeben …
GB: Amüsant … es wurde im Erfurt des 19./20. Jahrhunderts aber nicht nur international operiert, wie Sie das gerade beschrieben, auch die Ausbildung der Stammeshalter in diesen Familien- und Traditionsbetrieben war grundsätzlich international ausgelegt. Da wurde der zukünftige Geschäftsführer zunächst nach Paris geschickt und dann weiter nach England.
UH: Ja, das war, bzw. das ist für mich so verwunderlich. Dieses, hm, wie kann man das sagen? Ja, doch: dieses bürgerlich-kulturelle Verhalten, das hat es für uns im Osten irgendwie nicht gegeben, da bürgerlich mit negativ gleichgesetzt war.
GB: Was genau meinen Sie mit bürgerlich-kulturellem Verhalten?
UH: Ich habe in London einen jungen Mann kennengelernt, der hatte einen Master in Mathematics und Economy. Hinterher habe ich mitgekriegt, dass er aus einer Sonnenuhrmacher-Dynastie stammt und so ein kleines Universalgenie ist. Der hat alle möglichen Abschlüsse und sich eines Tages gesagt: „Das ist mir alles zu durchgeistigt, ich würde gerne noch etwas Bodenständiges machen.“ Deswegen hat er noch mal Gartenbau studiert und das eben auch wieder mit Vollgas. Eine wirklich faszinierende Person. Dieser Mann erzählte mir irgendwann auf dem Sofa, eine Grand Tour wolle er auch noch machen. Und ich so, „Was ist eine Grand Tour?“ und er erzählte mir daraufhin, dass die jungen Adeligen einst auf einer vorgeschriebene Route durch die Kulturstädte Europa gereist sind. Das heißt, es gab einst ein Bildungsprogramm, das letzten Endes dafür sorgten sollte, den Horizont zu erweitern. Es geht dabei ja gar nicht so sehr um Wissensvermittlung, sondern darum, den Kopf auf zu kriegen oder so aus dieser starren Enge zu entfliehen. Einfach dafür zu sorgen, dass ich meine Basics zu Hause bekomme, aber dass es auch noch etwas anderes braucht, das dafür sorgt, dass ich die Welt auch ein Stückchen weiter verstehe. Das war für mich so ein Ding, da war für mich so viel Bedeutung hinter.
GB: Diese mehr oder minder festgelegte Route über Mitteleuropa, Italien, und Spanien, inklusive der Rheinfahrt natürlich, spielt im Kunstgeschichtsstudium immer wieder als wichtiger Impulsgeber ein Rolle. Ich bin ja ein großer Fan der Aufklärung und fand demnach die Zeit Ihres Vorfahrens Friedrich Adolf Anfang/Mitte des 19. Jahrhunderts super spannend. Friedrich Adolf war der Literatur nach sehr belesen und ein mega guter Schüler. Er nahm die Kakteenkultur in Ihre, bis dahin für Erfurt ganz typisch auf Sämereien spezialisierte Gärtnerei auf und baute eine renommierte Sammlung auf. Wahnsinn, wen er hier alles zu Besuch hatte – das Who’s Who der Aufklärung: die Gebrüder Humboldt, Goethe, Liszt … am liebsten würde ich den Boden bei Ihnen küssen 😉
UH: Ja, Friedrich Adolf hat damals echt was auf die Reihe gekriegt. Der Laden muss wirklich hochgegangen sein. Nachdem er zunächst eine Bauchlandung hingelegt hat, ist er innerhalb kürzester Zeit dann eben wirklich durchgestartet. Er stand gleich zu Beginn mit seiner Gärtnerei wegen eines Unwettersommers kurz vor dem Bankrott. Er wird zu diesem Zeitpunkt noch nicht viele Kakteen gehabt haben, aber vier oder acht Jahre später gibt es dann einen Bericht, in dem ein Besucher der Gärtnerei betont, dass dies eine der tollsten Sammlungen in Deutschland sei. Allerdings fand jeder, der in dieser Zeit irgendjemanden besuchte, den anderen am vortrefflichsten und unglaublichsten und das Gesehene als das Schönste auf der ganzen Welt. Wenn der Verfasser das überall macht, dann muss ich manches rausstreichen, damit ich da an die Realität herankomme. Das habe ich in dem Fall aber noch nicht genauer erforscht.
Wenn wir miteinander reden und wir uns nicht gegenseitig Konkurrenz machen, weil wir dann nur noch über Preisliste differenzieren können, dann haben wir alle was davon.
GB: Friedrich Adolf Haage war in Erfurt sehr angesehen, gerade weil er später auch städtebaulich tätig war und den Gartenbauverein mitgegründet hat. In diesem Zusammenhang denke ich auch an die Gartenbauausstellungen, die in diesem Zuge in Erfurt aufkamen und die wohl die Initialzündung für die Stadt Erfurt waren, als Blumenstadt aufzutreten. Sein Tun war ja somit eigentlich für die ganze Stadt richtungweisend.
UH: Das war natürlich nicht nur sein Verdienst. Meine Deutung heute ist, dass die damals einfach im „Wir“ gedacht haben. Die Gärtner haben versucht, auch gemeinsam voranzukommen.
GB: Meinen Sie damit, dass der Individualismus noch nicht so ausgeprägt war?
UH: Den hat es wohl schon gegeben, aber dieses Gemeinwohl steckte einfach mit drinnen. Diesen Schluss zu ziehen, also über den Horizont hinaus zu denken und zu sagen „Wenn ich dafür sorge, dass mein Laden läuft, dass mein Nachbar aber auch noch arbeiten kann und der gute Überlebenschancen hat, wenn meine Mitarbeiter genug Geld verdienen, dann sorgen wir alle dafür, dass eingekauft werden kann und dass wir unsere Produkte absetzen. Wenn wir miteinander reden und wir uns nicht gegenseitig Konkurrenz machen, weil wir dann nur noch über Preisliste differenzieren können, dann haben wir alle was davon.“ Wir haben es doch ein Stück weit selbst in der Hand. Dass wir das Ding in der Summe weiterbringen, ist im Übrigen auch das, was ich immer so ein bisschen als Thüringer Gärtner-Präsident propagiere.
GB: Ist das aus Ihrer Sicht auch der gedanklicher Ansatz der Gartenschauen, für die Erfurt nun seit knapp zweihundert Jahren bekannt ist?
UH: Die Geschichte der Erfurter Gartenschauen beginnt aus heutiger Perspektive leider meist erst 1961 bzw. ein bisschen vorher um 1950, als die erste DDR-Gartenschau hier war. Die IGA 1961 ist ja dann die erste wirklich Große gewesen.
Was die damals in der Zeit auf die Beine gestellt haben, bei dem Gedanken läuft es mir immer kalt den Rücken runter.
GB: Mit ein wenig Recherche aber bereits viel früher, ab 1831.
UH: Eben, das ist auch das, was für mich wirklich viel zu kurz kommt. Die ganze Geschichte vorher wird einfach völlig ignoriert. Damals haben sich Erfurter Gärtner zusammengetan und gesagt: „Leute, lasst uns doch mal gemeinsam zeigen, was wir können“. Das war 1865, als die erste Gartenschau mit diesem Leitgedanken stattfand – im kleineren Rahmen sogar bereits 1831, wie Sie ja schon sagten. Die haben Geld zusammengelegt und einen aus ihrem Kreis bestimmt, Franz Carl Heinemann, der die Planung gemacht und in “Vogels Garten” umgesetzt hat. Dieser Gedanke, wir Gärtner, nicht eine GmbH von außen, zeigen der Bevölkerung, was wir können, ist von der emotionalen Verantwortung her eine völlig andere Schiene als die heutigen Schauen. Dieses “aus dem Berufsstand heraus”, das finde ich so beeindruckend und aus dieser Richtung kommt das Ganze ursprünglich. Also ja, dieses Wir-Gefühl war schon Ausgangspunkt für die Gartenschauen. Was die damals in der Zeit auf die Beine gestellt haben, bei dem Gedanken läuft es mir immer kalt den Rücken runter. In meinen Augen ist die Bundesgartenschau-GmbH viel zu jung. Die hat viel ältere Traditionen und die sollten sie auch nutzen. Deswegen ist meine Hoffnung, dass dann 2021 zur BUGA hier in Erfurt diese ursprünglichen Wurzeln der Gartenschauen vielleicht doch nochmal aufbereitet werden und zukünftig auch wirklich mit in die Geschichtsschreibung einfließen.
GB: Die offizielle Geschichtsschreibung setzt dann zur IGA 61 ein. Welche Rolle kommt ihr als Teil der Identifikation der Stadt Erfurt als Blumenstadt zu?
UH: Mich gab’s ja noch nicht, aber aus dem, was ich von meinen Eltern und ihrer Generation aus ganz vielen anderen Ecken gehört habe, formt sich ein rundes Bild. Mein Vater hat erzählt, “da mussten wir jeden Samstag eine Spaten in die Hand nehmen und sind auf die Cyriaksburg gelaufen und haben dort von Hand Gräben für die Wasserversorgung gebuddelt.”* Auf der einen Seite ist das natürlich damals vom sozialistischen Staat mehr oder minder diktiert worden. Das war, glaube ich, nationales Aufbauwerk. Es hieß irgendwie ein bisschen braun. Zu diesen Aufbaustunden war jeder Werktätige in einer gewissen Form verpflichtet. Aber das, was sich daraus entwickelt hat, und das ist das, was bis heute trägt, ist diese Identifikation. “Das ist unsere IGA gewesen!” Und natürlich wird jede Veränderung von dem, was damals aufgebaut wurde, sehr, sehr argwöhnisch beäugt. Aktuell ist das Gerücht wieder im Umlauf, dass die alten Hallen, die bis jetzt gestanden haben, obwohl sie schon lange baufällig sind, vielleicht doch abgerissen werden.
* [in der DDR gab es samstags häufig unbezahlte gemeinsame Arbeitseinsätze – zu Beginn waren die noch freiwillig]
GB: Ok. Und da hängt man natürlich dran …
UH: Natürlich. Die älteren Erfurter haben da zum Teil mitgebaut, haben Lampen reingeschraubt oder sonst irgendwas. Gestern war die Grundsteinlegung von dem Danakil, dem Klimazonenhaus, wo wir heute als Unternehmen wieder mit dabei sind. Da waren die Architekten wirklich pfiffig genug und haben die Kubatur der “Glashalle” oder Zentralgaststätte, so hieß es korrekt, übernommen. Die stand damals dort in der Mitte und hatte eine Glasfassade. Die haben sie wieder aufgegriffen und auch die Panoramabrücke oder Rendez-vous-Brücke wird es wieder geben. So haben die Architekten Altbekanntes neu interpretiert. Das sorgt letzten Endes dafür, dass die Leute, die sich früher damit sehr intensiv identifiziert haben, das Neue eben auch als passend empfinden.
Man ist am gleichen Punkt losgelaufen und plötzlich war das eine Werbung und das andere Propaganda …
GB: In dem Buch „Blumenstadt Erfurt“ von Martin Baumann und Steffen Raßloch (Hg.) wurde darauf hingewiesen, dass die Gestaltung der Beete bei der IGA 61 ein ganz ähnliches Design hatte wie das Gartendesign des Westens zu der Zeit, aber das Ganze ideologisch konträr aufgeladen war.
UH: Diese Scheidung des Landes stelle ich mir sehr interessant vor, weil die künstlerische Basis und das Design ja die gleich Grundlage hatten. Man ist am gleichen Punkt losgelaufen und plötzlich war das eine Werbung und das andere Propaganda – mehr oder minder. In meinen Augen ist da jetzt kein großartiger Unterschied. Das eine war eben politische und das andere wirtschaftliche Werbung. Eins davon zu verteufeln halte ich für kritisch. Es schafft genau diesen Zwiespalt, der mich beispielsweise sehr an das Buch 1984 von George Orwell erinnert, wenn so eine Einflussnahme bis tief in das Alltagsleben dringt, wobei ich das in der Realität so extrem nie wahrgenommen habe.
GB: Ahnten Sie bei der letzten IGA schon, dass es jetzt alles auseinanderbricht oder ist es eher eine rückblickende Interpretation?
UH: Es ist eine rückblickende Interpretation. Das ist ja das Schöne, wir leben immer in der Zeit, in der wir uns befinden und können auch nur bis zum Horizont blicken. Jetzt zu behaupten, ich hätte gesehen, dass das nicht mehr lange dauert, wäre eitel. Habe ich nicht. Die Hoffnung war damals, dass es irgendwie ein Zusammenwachsen geben wird, und der habe ich mich auch hingegeben. Die Enttäuschung, die jetzt an ganz vielen Stellen entsteht, ist ja, weil die Hoffnungen nicht Realität geworden sind. Das ist alles.
Wir haben halt gehofft, es gäbe dann immer noch Altstoffsammlungen, weil das ein tolles System ist und die Schulspeisung würde weiterhin 80 Pfennig kosten. Na klar gibt es bestimmte Dinge, die einfach nicht funktionieren und auf der anderen Seite haben sich Dinge entwickelt, an die haben wir uns damals nicht ran gewagt. Ich bin, was diese ganzen Konflikte betrifft, auch ein bisschen pragmatisch. In meinen Augen war die Wende eine positive Entwicklung und ja, es gibt auch heute noch Leute, die dabei echt runtergefallen sind und das ist blöd.
Kakteen wurden als “unarisch” bezeichnet und sowas hatte in der Zeit natürlich fatale Folgen.
GB: Die Zeit der DDR ist ja vermutlich am stärksten mit Ihrem Großvater verknüpft. Wissen Sie aus Erzählungen vielleicht, welche Bedeutung dem Kaktus in seiner Generation zukam?
UH: Die goldenen Zwanziger waren die schönste Zeit für meinen Großvater. Die Gärtnerei florierte, Kakteen waren groß in Mode, man denke an das Lied „Mein kleiner grüner Kaktus“. Er konnte reisen und lernte seine Frau kennen. Der erste Weltkrieg, in dem sein Bruder fiel, ist auf den Bildern aus der Zeit scheinbar vergessen. Es gab sogar Mottopartys in unserem Haus. Kann ich mir bei meinem seriösen Großvater gar nicht vorstellen. Dann kam die Inflation, als alle Werte verfielen. Jedem zerrann das Geld buchstäblich in den Händen und mein Großvater musste Geld besorgen, um seine Verträge zu erfüllen. Verträge mit Pflanzenjägern, die er nach Amerika geschickt hatte, um neue Pflanzen zu entdecken. Er schipperte als blinder Passagier nach Schweden, um Kakteen zu verkaufen. War im Botanischen Garten Göteborg als Berater tätig. Das Geld schickte er hoffnungsvoll nach Mexiko – obwohl er schon länger keine Post mehr von dort bekommen hatte. In der Nazi-Zeit war es für meinen Großvater schwierig. Kakteen wurden als “unarisch” bezeichnet und sowas hatte in der Zeit natürlich fatale Folgen.
GB: Wie „überlebten“ die Kakteen trotz des Krieges?
UH: Die Kriegsvorbereitung wurde überall betrieben. Deswegen wurden auch alle Gärtner “motiviert” für die “Volksernährung zu kämpfen” – also Nahrungsmittel anbauen. Und Kakteen gehörten dazu eben nicht. Dass man Kakteen auch essen kann, war zu der Zeit hier noch nicht bekannt. Also hat mein Großvater begonnen, Sojabohnen zu züchten – mit besonders hohem Eiweiß-Gehalt. Die Kakteen hat er unter den Tischen im Gewächshaus versteckt. Die Kakteen haben das überlebt, die Gärtnerei auch. Was aus den Bohnen geworden ist, weiß ich aber nicht.
GB: Wie ging es nach dem Krieg weiter?
UH: Nach Hitler kamen die Amerikaner nach Erfurt und dann die Russen. Vor denen hatten alle Angst. Verständlich, wenn man hört, was im Krieg dort alles passiert ist. Trotzdem war es ein russischer Offizier, der die Kakteen und die Gärtnerei nach dem Krieg vor dem Aus gerettet hat. Der Stadtkommandant Baranow war im Zivilleben Kurator des Botanischen Garten in Leningrad und veranlasste im eisigen Nachkriegswinter, dass Brennmaterial für die Heizung bereitgestellt wurde.
GB: Wahnsinn. Welch Glück im Unglück. Was machte Ihr Großvater daraus?
UH: Mein Großvater ist nach dem Krieg sehr aktiv geworden und hat gesagt: „O.k., wir müssen unter diesen Rahmenbedingungen jetzt das Bestmögliche machen“. Die Deutsche Kakteengesellschaft gab es im Osten nicht mehr. Er hat dann wieder Leute zusammengebracht, die sich für Kakteen interessierten. Daraus entwickelte sich dann später die Fachgruppe Kakteen unter dem Kulturbund. Er ist durch die Republik getingelt und hat Diavorträge und seine Filme gezeigt, hat die Menschen im Osten für die Pflanzen begeisterten. Damit hat er praktisch den Samen gelegt.
Das Praktische ist ja, um Kakteen zu haben, muss ich nicht in Mexiko sein.
GB: Wurde das dann also so ein bisschen als Kulturleistung deklariert, die man als Volk schafft?
UH: Das Praktische ist ja, um Kakteen zu haben, muss ich nicht in Mexiko sein. Manche Leute haben sich mit einer Akribie und Hingabe mit ihren Pflanzen auseinandergesetzt, da ist wirklich echte Forschungsarbeit geleistet worden, soweit man das im Amateurbereich machen kann. Diejenigen nahmen ihre Kakteen genau unter die Lupe und sie leisteten beinahe wissenschaftliche Arbeit in einem Bereich, in dem zu dieser Zeit kaum öffentlich geforscht wurde. Ob aus Geldmangel oder weil einfach niemand da war, der sich damit auseinandersetzte – keine Ahnung. Mein Großvater hat eben gemacht und viele andere dafür begeistert und unterstützt. Und das ist schon eine Kulturleistung. Heute weiß ich, das war nicht nur im Osten so und diese Entwicklung hält bis heute an. Trotzdem war es keine einfache Zeit, auch wenn er wieder wie ein Pionier unterwegs war. Die Gärtnerei und auch er mussten immer wieder Repressalien ausstehen. Auch mein Vater, der in den 1960ern dort zu arbeiten anfing. Mit dem Mauerbau kam die staatliche Beteiligung.
GB: Für einen Familienbetrieb mit einer solchen Tradition unvorstellbar. Aber Sie sind ja heute hier als mein Gesprächspartner, was mich sehr freut 😉 Wie konnte Ihre Familie das Herz dieser Gärtnerei bleiben?
UH: Mit der Verstaatlichung 1972 wurde mein Großvater mehr der minder in Zwangsruhestand versetzt. Aber auch das ging dann letzten Endes gut aus, weil er einfach angefangen hat “hauptberuflich” Bücher zu schreiben und damit das Thema nochmals zusätzlich befeuerte. Er hatte ja vorher schon Bücher geschrieben, aber im Ruhestand ging das dann eben richtig los. Er hatte einen ganz eigenen Schreibstil drauf. Ich höre immer wieder: „Also Ihr Großvater, der hat mich angefixt!“. Er konnte einen so fesseln und hatte den Bogen raus, wissenschaftliche Information zu transportieren, aber die in einem Karl-May-Umfeld zu verarbeiten, sodass man wirklich fiebert, was jetzt auf der nächsten Seite passiert, und diese Kombination ist sein großer Verdienst. Dafür ist er bekannt geworden. Noch heute merke ich, dass der Name Haage auch international Gewicht hat. Ich hab im letzten Mai in den Staaten Vorträge gehalten und es war schon komisch: Ich wurde von Leuten angesprochen und habe mich umständlich versucht vorzustellen und wenn ich damit fertig war, gab man mir zu verstehen, dass der Haage mit den Kakteen dort doch bekannt sei. Und das ist die Basis, die in der Geschichte begründet liegt, aber auch darin, dass mein Großvater verstanden hatte, das Thema auf vielfältige Art und Weise publik zu machen. Das hat jede Generation in unserer Familie irgendwie auf eine andere Art und Weise gemacht.
Ich habe immer gedacht, ich müsse so sein wie mein Vater.
GB: Lustig. So weit von der Heimat entfernt und auf Basis dessen, was die eigenen Vorfahren, Großvater, Vater erarbeitet haben. Ich stelle es mir aber auch mal herausfordernd vor, gerade wenn es darum geht, seinen eigenen Weg zu gehen.
UH: Diese Generationsgeschichte, auch was innerhalb eines Familiengefüges passiert, finde ich sehr spannend. Das ist immer so eine Vater-Sohn-Nummer. Ich habe immer gedacht, ich müsse so sein wie mein Vater. Aber das war für mich wirklich diese Auseinandersetzung mit der Geschichte, die mir da auf die Sprünge geholfen hat und die in mir Fragen aufgeworfen hat. “Haben die alle das Gleiche gemacht?“ „Kannst Du überhaupt das machen, was Dein Vater macht?“ und „Willst Du das überhaupt?“ Ich habe angefangen, darüber nachzudenken. Bei der Auseinandersetzung mit der Person meines Vaters, aber auch mit den Personen davor, ist mir ein Licht aufgegangen: Die Wiederholung ist nicht die Lösung. Darum geht es nicht wirklich. Ich könnte natürlich versuchen, mich zu verbiegen und das zu machen, was die Generationen vor mir gemacht haben, aber es wäre nicht Sinn der Übung. Diese Erkenntnis ist für mich noch nicht so alt.
GB: Wie nähern Sie sich den einzelnen, zum Großteil bereits verstorbenen Personen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie oder wer sie waren?
UH: Wenn ich in alten Aufzeichnungen wühle, dann lese ich oft Beschreibungen. Dinge, Orte und auch von Menschen. Aber das ist immer nur ein Versuch. Eine Momentaufnahme. Nie ein rundes Bild. Ich finde es sehr schwierig, einen Menschen zu charakterisieren. Wie hat jemand getickt? Was sind die wichtigen Eigenschaften? Es sind oft nur die Männer, die in den Aufzeichnungen eine Rolle spielen, aber im Prinzip geht es bei dieser Galerie, wie sie hier hängt, letzten Endes darum, für jeden Charakter ein Profil zu umreißen. Und woran mache ich das fest? Was weiß ich überhaupt über die Person? Was ist eine angemessene Information, um ein knackiges, aber trotzdem einigermaßen ausgewogenes Bild zu schaffen. Mir fällt das immer verdammt schwer, weil ich denke, dass ich kaum etwas über die Person weiß, und wenn, dann meist auch wieder nur durch solche unvollkommene Profile, die Leute vor mir geschrieben haben.
GB: Haben Sie dafür ein Beispiel?
UH: Irgendwo stand mal, einer von den drei Brüdern, ich glaube es war Gustav Ferdinand, “war angeblich kein so toller Kaufmann”. Die Frage ist: Woran wird das festgemacht? Wer beurteilt das? Aus welcher Perspektive, was ist die Ursache dafür? Und ist die Ursache vielleicht einfach nur gewesen, dass sich nach seinem Tod die Erben alle in die Wolle gekriegt haben und der Laden dabei fast den Bach runter gegangen wäre, weil die alle ausbezahlt werden wollten? Im Resultat führen beide Versionen zum gleichen Resultat, aber wenn das dann zu dem Urteil führt, dass Gustav Ferdinand ein schlechter Kaufmann war, ist das einfach mal eine Fehleinschätzung. Das ist in meinen Augen eben wichtig, die Bilder noch mal rund zu machen. Deswegen versuche ich immer, mehr Informationen über die Personen zu sammeln. Tauchen die vielleicht in der Öffentlichkeit auf, gibt es Akten bei Gericht, beim Stadtrat, Bau und vielleicht auch private Schilderungen oder Überlieferungen?
GB: Wenn Sie irgendwann an dieser Wand hängen, also nicht, dass das jetzt morbide klingt, was soll Ihr Profil sein?
UH: Ja, das ist das spannende. Das muss ich nicht machen. Also da habe ich so noch nie drüber nachgedacht. Oder? Doch, ich glaube, ich habe schon drüber nachgedacht. (lacht)
Sind die Dinge, die ich jetzt bewege, irgendwelche Sachen, die in 20 Jahren noch eine Rolle spielen?
GB: Was ist die Ausrichtung Ihres Profils?
UH: Das ist witzig, ich habe heute früh noch ein Artikel in einer alten brand eins gelesen und da geht es darum, was denn jetzt eigentlich bei dieser digitalen, verschollenen Revolution passiert. Verdient es den Namen überhaupt noch. Ist es eine Revolution oder ist es einfach nur ein Puff in der Geschichte? Wann hat die denn in Wahrheit begonnen? Wann ist wirklich was passiert und ist überhaupt wirklich etwas passiert? Es ging dabei um die Abgrenzung, und das hat mich so ein bisschen ratlos zurückgelassen, weil das die Dramatik dessen, was da jetzt vermeintlich Weltbewegendes irgendwo passiert, so sehr relativiert. Zum Beispiel, ob Textverarbeitungsprogramme tatsächlich eine Erleichterung im Leben gebracht haben, das aber in den 90er-Jahren schon abgehakt gewesen ist. Das ist heute durch. Dass die Versionen zwar weiterhin besser werden, die Grundlage aber längst da ist. Sind Smartphones tatsächlich so weltbewegend, wie wir es wahrnehmen? Und den Vergleich, den fand ich eben schön, auf was wir lieber verzichten würden? Auf das IPhone oder die Toilettenspülung? Das sind so pragmatische Fragen…
GB: Man ist zu nah dran. Internet oder Waschmaschine?
UH: Genau, all diese Parallelen. Sind die Dinge, die ich jetzt bewege, irgendwelche Sachen, die in 20 Jahren noch eine Rolle spielen? Darum schreibe ich nicht nur privat, sondern auch ein geschäftliches Tagebuch, das hat mein Großvater auch schon gemacht. Einfach, um später ausloten zu können, ob das, was jetzt geschieht, etwas Wichtiges gewesen ist. Ob ich in 10 Jahren denke, wenn ich mir das angucke “das ist ja putzig gewesen” oder “ja, das hat tatsächlich eine Rolle gespielt, das hat Weichen gestellt”.
GB: In welchem Zusammenhang steht die Erkenntnis aus der brand eins mit ihrem Profil? Ich lasse jetzt nicht locker 😉 Also, was ist wirklich der Bodensatz, der dann am Ende überbleibt und sich absetzt, oder meinen Sie, es ist einfach zu trübe, um das jetzt sagen zu können.
UH: Das was ich jetzt sagen kann, sind zwei Dinge, aber die sagen nicht direkt etwas über mich, sondern erstmal etwas über meinen Vater aus. Mein Vater hat es geschafft, hier im Betrieb in der DDR-Zeit ein Arbeitsklima und eine Gemeinschaft zu schmieden. Durch sein eigenes Engagement hat er für einen Zusammenhalt gesorgt. Das merke ich, wenn neue Mitarbeiter hierher kommen und sich zu Hause fühlen. Das funktioniert nicht für jeden, aber wenn die wirklich hierher passen, dann setzen die auch Himmel und Hölle in Bewegung, dass das auch so bleibt. Das ist das Eine, was mir ganz wichtig ist, weil ich merke, dass, wenn ich das nicht habe, ich nicht arbeiten kann. Also das heißt, dieses Erbe versuche ich weiterzutragen und zu meinem zu machen. Zwar merke ich auch, dass meine Interpretation heute nicht mehr die ist, die mein Vater angefangen hat, und dass wir da auch Differenzen haben – inzwischen bin ich da auch ganz froh drum, das ist in Ordnung so.
Und das Zweite, was in meinen Augen auch wieder bei ihm anfängt, ist, dass er bereits 1986 sein ganzes gespartes Westgeld genommen und unsere Verwandtschaft jenseits der Grenze gebeten hat, ihm einen Computer zu kaufen. Meine Eltern sind sehr sparsame Menschen und hatten bestimmt 300 DM zusammengetragen. Und so haben wir irgendwann drei große Wertpakete auf dem schönen Erfurter Hauptpostamt abgeholt – natürlich erst nachdem mein Vater sich mit Geburtsurkunde ausgewiesen hatte – und damit war der erste Computer hier.
GB: Ach so, man durfte sich solcherlei Waren im Ausland kaufen und sie schicken lassen?
UH: Nein, natürlich nicht. Letztlich hat unsere Familie im Westen zusammengelegt – das haben wir aber erst viel später erfahren. Ich konnte praktisch noch in der Schulzeit angefangen, mich mit einem Personalcomputer auseinanderzusetzen. Das spielt für uns heute noch eine Rolle. Dass wir das Thema Computer früh intus hatten, hat auch dafür gesorgt, dass wir 1996 die erste Internetseite hatten, eine der ersten in Erfurt. Erst später haben wir mitgekriegt, wie wirklich früh wir dran waren. Wenn irgendwo in den Gartenbauzeitschriften das Thema Internet kam, war ich in den Anfangszeiten oft als Interview-Partner drin, mit Berichten über die Errungenschaften und wie viel Tausend Mark wir über das Internet schon generiert haben, obwohl das damals wirklich nur eine kleine Rolle gespielt hat. Die Frage, ist das jetzt etwas, auf das in 10 Jahren oder in 20 Jahren überhaupt noch jemand guckt – also ich schau da natürlich auch aus der Perspektive eines Archivars da drauf –, ist schwer zu beantworten. Vermutlich wird das Internet, wie wir es heute kennen, nicht mehr existent sein, und dann wird das, was uns heute bewegt, längst vergessen oder bloß eine Anekdote sein.
Was ich merke, ist, dass das, was die Erinnerung an einen Menschen zeichnet, immer das ist, was ihm Erinnerungswert bei einem anderen verschafft.
GB: Wir sind dann alle online. Automatisch, in unseren Zellen, über unsere Iris, voll abgefahren. Borgs. Wir sind ein Kollektivgehirn, der Schwarm. Wir wissen sofort alles, weil es uns automatisch von Google ins Gehirn gespeist wird …
UH: Irgendwie so, Vielleicht. Ja, und andererseits haben wir einst die Telefonnummer 5 gehabt … So reihen sich die Entscheidungen aneinander. Was ich merke, ist, dass das, was die Erinnerung an einen Menschen zeichnet, immer das ist, was ihm Erinnerungswert bei einem anderen verschafft. Letzten Endes können wir nichts weiter tun, als Zeit unseres Lebens für die Menschen, die nach uns kommen, in irgendeiner Form eine Bedeutung zu hinterlassen. Da sind wir wieder am Anfang. Sind wir in der Lage, Stichwort Blumenstadt, das, was noch nicht verschwunden ist, zu erhalten? Sind wir das? Ist Blumenstadt für Erfurt heute noch ausreichend, um sich damit zu identifizieren – für eine Stadt, ihre Einwohner? Dass ich Gärtner bin, verantwortlich fürs Grün, das gibt dem vielleicht ein wenig mehr Gewicht. Mir liegt am Herzen, dass Blumenstadt nicht nur ein Beiname aus Tradition ist, sondern dass genau das auch für jeden deutlich sichtbar ist, in und um unsere schöne Stadt. Dafür werbe ich und versuche das auf möglichst konstruktive Weise in die Welt zu tragen.
GB: Lieber Herr Haage, vielen Dank für das Gespräch. War toll mit Ihnen durch die Zeit zu reisen und Sie kennenzulernen …